Im Frühsommer 2002 veranstaltete der FB Sprach-und Literaturwissenschaften an der Uni Wuppertal einen Schreibwettbewerb für alle Studies der Uni. Das Thema "Zeitreise" war vorgegeben und max. 5 Seiten durften es sein, ansonsten war alles zugelassen (Lyrik, Prosa, Essay...). Tatsächlich habe ich mich inspirieren lassen und ein paar Gedanken verfasst (siehe unten). Weil ich mit dem Resultat nicht zufrieden war, habe ich einen zweiten Anlauf genommen und das Ergebnis dann auch abgegeben. Leider habe ich keinen der vorderen Plätze belegt (ignorante Jury!). Den Text, den ich tatsächlich eingereicht habe, veröffentliche ich aber erstmal nicht auf meiner HP, aber der erste Anlauf ist vielleicht auch ganz amüsant:
Wir sind alle zu spät geboren. Wir lesen die Geschichten der Entdecker, der Erfinder und der Revolutionäre und sagen uns: Ja, wenn ich damals gelebt hätte - da wär' ich auch drauf gekommen, das hätte ich aber besser machen können. Es ist schwer, heute noch einen neuen Gedanken zu finden, such lange genug im Archiv, irgendwer wird ihn schon vor dir gedacht haben. Und dann, was nützt ein neuer Gedanke, man kann mit ihm allein doch nicht die Welt oder den Mensch - sich selbst - verstehen.
Der Weg zur Meisterschaft ist hart und vor allem lang, in einer Welt in der Bücher mit einem Titel wie "Eine kurze Einleitung in die einfachsten Grundlagen der ...." 24 bändig sind.
Was nützt alles Wissen? "Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh' ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor! " (Merke: zitiere Goethe, am besten den Faust, und schon ergießt sich die ganze Weisheit des Genies auf dein Werk).
Doch was war Faust, der sich hier anmaßt, ein Universalgenie zu sein? Er war zu spät geboren.
Können wir es schon nicht erreichen, uns selbst zu verstehen, dann lasst uns wenigsten mehr wissen als alle anderen wissen. Wann müssten wir geboren sein, um nicht zu spät geboren zu sein? Wann würden wir leben, wenn wir es mit einer Zeitreise selbst bestimmen könnten?
Es gibt Leute, die sagen Rene Descartes war das letzte Universalgenie (anderen meinen, Leibnitz war es, noch andere haben da wieder andere Name parat - aber bleiben wir bei Descartes, weil er am besten in mein Konzept passt).
"Cogito, ergo sum" hat er gesagt. Der Schluss: "Du denkst, also bist auch du" ist übrigens nicht zulässig - ich gehe zwar schwer davon aus, dass auch du, lieber Leser, denkst, aber sicher kann ich mir da nicht sein. Wer weiß, vielleicht bist du nur eine Einbildung und in Wahrheit bin ich reiner Geist in einem Astralnebel und erzeuge mir zum Zeitvertreib eine virtuelle Realität mit komischen materiellen Wesen, die auch noch - absurde Idee - sterblich sind. Könnte stimmen, doch solange es keinen Ausweg aus dieser Realität gibt, müssen wir - jawohl, lieber Leser, jetzt gehe ich wieder davon aus, dass auch du etwas Hirnschmalz hast - Antworten auf die Fragen dieser Existenz finden und nicht über eine andere spekulieren. Das gilt übrigens auch für eine mögliche andere Existenzebene nach dem Tod.
Seit Jahrhundert beschäftigt die Frage den Menschen, ob es ein Leben nach diesem gibt. In unserer Gegenwart erleben wir, wie diese alte Frage zynisch umformuliert wird: "Gibt es ein Leben nach der Geburt?" (die ständigen Themensprüngen bedeuten nicht etwa, dass der Autor den Faden verloren hat - vielmehr soll der Leser das Gefühl vermittelt bekommen, dass der Schreiber keine Struktur nötig hat). Ich möchte da noch einen logischen Schritt weiter gehen: "Gibt es ein Leben vor der Geburt?". Hoppla, sollte das etwa ein neuer Gedanke sein? - ich schaue lieber nicht im Archiv nach (da sag noch einer, ich hätte den Faden verloren). Hat sich wirklich noch nie jemand mit dem Überbevölkerungsproblem in der Ewigkeit beschäftigt? Wenn durch jeden gelungene Zeugungsakt - ich spare mir hier weitere ethische Überlegungen - eine neue Seele Platz im Himmel oder Hölle oder wo auch immer beansprucht, dann steigt die Anzahl der reservierten Plätze dort rapide an. Grundsätzlich ist das natürlich kein Problem für einen ordentlichen Himmel - der ist ja sowieso unendlich. Aber es ist kein schönes Design, dieses plötzliche Anschwellen statt eines Gleichgewichtes - hat Gott das Universum wirklich so schlecht entworfen? Da liegt doch eigentlich der Schluss näher, dass es jede Seele schon immer gab - und sie sich mal im Diesseits, mal im Jenseits aufhält. Diese Annahme führt nicht nur zu einer möglichen Wiedergeburt sondern halt auch auf ein Leben vor der Geburt.
Ein nettes Gedankenexperiment, dass keinerlei Information darüber liefert, was wir sind. Es hilft nicht, zu verstehen. Vielleicht ist es da doch weiser, es so zu sehen: "Du kamst aus dem Nichts, du gehst ins Nichts. Also, was hast du verloren? Nichts!".
Würde es uns wirklich helfen, zu Descartes Zeit zu leben, die Chance zu haben, alles zu lernen, was man lernen kann? Vermutlich nicht. Wahrscheinlich hat schon Descartes sich geärgert, dass die antiken Griechen vor ihm die grundlegenden geometrischen Zusammenhänge erkannt hatten. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, ein paar neue Gedanken zu entwickeln.
Der Entwicklungsprozess der Menschheit hat nicht nur dazu geführt, dass es keine Universalgenies mehr geben kann. Viele Maschinen und Prozesse im Leben sind so komplex geworden, dass ein einzelner Mensch sie nicht mehr erfassen kann. So manch einer wünscht sich eine Zeitreise nicht zu Descartes, sonder nur dreißig Jahre in die Vergangenheit, als man die Zündkerzen am Auto noch selber wechseln konnte. Der Programmierer, der noch immer von der seit Jahrzehnten überholten Hard- und Software fabuliert. Die Sekretärin, die ihren Karteikästen und Hängeregistern nachtrauert. Damals - wann immer damals auch ist - war alles besser.
Natürlich ist das Einbildung, eine Glorifizierung der Vergangenheit. Und außerdem muss man die Zündkerzen ja nicht unbedingt selber wechseln, den männlichen Basteltrieb kann man auch anders befriedigen.
Letztlich sollte man sich klar machen, dass die spannendste, interessantes und faszinierendste Zeitreise uns nicht zu Descartes oder zu Hängeregistern führt - wir treten sie jeden Abend an und sie führt uns einen Tag in die Zukunft. Na denn gute Nacht.